Śaiva Tantra: Von Kaschmir bis Südostasien
Tantra entsteht in Indien und verbreitet sich weit über den indischen Subkontinent hinaus. Die tantrischen Strömungen prägen Rituale, Philosophie und Yoga ihrer Zeit. Das können wir an der großen Menge an Texten und der zentralen Rolle tantrischer Gurus an königlichen Höfen ablesen.
Insbesondere in Südostasien dominierten tantrische Formen des Buddhismus sowie des Śaivismus und Vaiṣṇavismus. Auch in Ostasien fand der tantrische Buddhismus großen Anklang. In Japan besteht er bis heute neben nicht-tantrischen Mahāyāna-Schulen. Im tibetischen Buddhismus schließlich bildet Tantra die vorherrschende Praxis.
In seiner Blütezeit erstreckt sich das Śaiva Tantra über den gesamten indischen Subkontinent, einschließlich des heutigen Indiens, Pakistans, Nepals, Bhutans, Tibets und Bangladeschs, sowie Teile Südostasiens wie Kambodscha, Vietnam und Indonesien. Besonders im Tal von Kaschmir im hohen Norden Indiens floriert Śaiva Tantra. Die Hauptstadt dieses kleinen Königreichs, Śrīnagar („die gesegnete Stadt“ oder „Stadt der Göttin“), liegt an einem malerischen See und wurde als Tilak (heiliges Stirnzeichen) von Mutter Indien angesehen. Kaschmir, bekannt für seine außergewöhnliche Schönheit, war ein Ort, an dem zahlreiche indische Religionen florierten. Zudem waren die Könige von Kaschmir große Förderer von Philosophie und Kunst, was die kulturelle Blüte von Śaiva Tantra weiter vorantreibt.
Ab 5. Jh: Ursprünge und erster Quelltext
Śaiva Tantra hat seinen Ursprung in den frühen Śiva verehrenden Traditionen und entwickelte sich aus dem sogenannten Atimārga, dem „höheren Pfad“. Dieser vortantrische Śivaismus war primär auf männliche Brahmanen beschränkt, hatte ausschließlich spirituelle Ziele und lehnte weltliche Bestrebungen ab. Aber Aspekte wie die Überwindung des Ego, der Anhaftung an den Körper und der Angst vor dem Tod finden sich auch im späteren Tantrismus wieder.
Die Niśvāsatattvasaṃhitā ist der erste heute bekannte tantrischen Text, der etwa im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entstand. Dieses umfangreiche Werk stellt einen Wendepunkt dar, da er erstmals eine systematische Darstellung tantrischer Lehren bietet. Er behandelt zentrale Themen wie Kosmologie, Rituale der Verehrung und Einweihung sowie verschiedene Formen des Yoga, die später die Grundlage für die tantrischen Strömungen bilden. Sehr wahrscheinlich wurden die Inhalte des Textes aber schon vorher mündlich überliefert.
Ab 6. Jh: Tantra tritt in den Vordergrund
Die tantrische Tradition tritt ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. in den Vordergrund und bezieht sich auf heilige Schriften, die Tantras oder Āgamas genannt werden. Diese Texte gelten als göttlich offenbart. Sie sind zahlreich und die zuvor erwähnte Niśvāsatattvasaṃhitā gehört ebenfalls dazu. Sie versprechen sowohl spirituelle Befreiung als auch weltliche und übernatürliche Ziele. Tantra ist eine Tradition, die den Zugang zu ihrem Wissen und ihrer Praxis über Einweihungen (dīkṣā) vermittelt.
Das Śaiva-Tantra entwickelte sich in dieser Zeit in verschiedene Richtungen, die auf unterschiedlichen philosophischen und praktischen Ansätzen beruhen:
Rechte Strömung, bekannt als Śaiva Siddhānta:
Sie basiert auf einem dualistischen Ansatz, der drei ewig getrennte Prinzipien unterscheidet: Gott, das manifestierte Universum und die individuelle Seele. Das Universum wird als Quelle der Anhaftung und Verstrickung angesehen, während Gott die Seele – deren göttliche Natur durch ihre Verkörperung verborgen ist – durch seine Gnade befreit. Diese Gnade führt dazu, dass man einen Guru für eine Einweihung sucht. Die in diesem Ritual verwendeten Mantras, die von Gott zu diesem Zweck offenbart wurden, zerstören den Großteil des Karmas und garantieren, dass man nach dem Tod vom Kreislauf des Leidens und wiederholtem Tod (Saṃsāra) befreit wird. Dadurch wird die angeborene Göttlichkeit der Seele vollständig offenbar, sodass sie Gott vollkommen gleich, aber dennoch von ihm getrennt bleibt.
Kennzeichnend für Śaiva Siddhānta:
- Verehrung Śivas ohne Śakti.
- Bedeutung ritueller Einweihung für die Befreiung.
- Akzeptanz vedischer sozialer Normen.
Śaiva Siddhānta war die erste tantrische Tradition mit einem klar strukturierten Kanon aus Schriften und Kommentaren. Sie dominierte die religiösen Institutionen der Śiva-Tradition, wie Tempel und Klöster. Ab dem 12. Jahrhundert wandte sie sich unter dem Einfluss von Advaita Vedānta einem nicht-dualistischen Ansatz zu.
Linke Strömung, auch als Kaula (von kula, „Familie“) bekannt
Diese hat ihre Wurzeln in einer ebenfalls alten, jedoch eher volksnahen Schicht der indischen Religion. Es war die schamanistisch geprägte und visionäre Welt, in der es um die Besänftigung von Naturgöttinnen und tierköpfigen Yoginīs ging. Die hochgebildeten Anhänger des 9. Jahrhunderts lehnten die schamanischen Praktiken nicht ab, sondern deuteten sie als Ausdruck innerer Bewusstseinsprozesse um.
Die linke Strömung ist auch als Kaula („aus der Familie“ - von kula) bekannt, womit die Schar der Göttinnen gemeint ist, auf deren Verehrung ihr Fokus liegt. Im Gegensatz zur rechten Strömung strebten die Kaulas die Befreiung noch im gegenwärtigen Leben (jīvanmukti) an, indem sie Erkenntnisprozesse und Yoga durch kraftvolle spirituelle Erfahrungen kultivierten. Als eine praxisbasierte Linie lehrte sie die Nutzung sinnlicher Erfahrung als Sprungbrett in die göttliche Gegenwart.
Wesentliche Merkmale von Kaula:
- Verehrung weiblicher und „wilder“ Gottheiten.
- Ziel der Befreiung im Leben (jīvanmukti).
- Ablehnung strenger Ritualpflichten, trotz Durchführung bestimmter Zeremonien.
- Herausforderung gesellschaftlicher Normen, z. B. durch die Ermächtigung von Frauen und grenzüberschreitende Rituale.
Kaula ist eine primär nicht-dualistische Śiva-Śakti-Tradition, die weniger institutionalisiert ist als die rechte Strömung.
Mittlerer Weg des Tantrismus
Zwischen diesen beiden Hauptströmungen gab es einige Schulen, die eine Art Mittelweg vertraten, der Elemente aus beiden Strömungen enthielt. Der zentrale Text dieser Tradition, das Svacchandatantra, beeindruckt durch seine umfassenden Darstellungen von Kosmologie und yogischen Praktiken. Es enthält zahlreiche wertvolle Lehren, die später in die Trika-Tradition (siehe unten) aufgenommen wurden.
6. - 11. Jh: Die neun bedeutendsten Sampradāyas
Über einen Zeitraum von etwa 500 Jahren (etwa 600–1100 n. Chr.) bildeten sich im Śaiva-Tantra verschiedene religiöse Gruppen (Sampradāyas) heraus. Sie unterscheiden sich vor allem durch Verehrung unterschiedlicher Gottheiten, Praktiken und in der Symbolik. Außerdem gibt es dualistische und nicht dualistische Ansätze. Im Folgenden werden die neun wichtigsten Sampradāyas in der Reihenfolge ihrer Entstehung dargestellt:
- Śaiva Siddhānta (rechte Strömung)
- Betonung dualistischer Theologie, ritueller Einweihung und vedischer Normen
- Klare Kanonbildung (Textsammlungen + Kommentare).
- Starke Institutionalisierung in Tempeln und Klöstern.
- Vāma
- Teil der linken Strömungen
- Verehrung von Göttinnen und Nutzung grenzüberschreitender Rituale
- Bereits vor dem Höhepunkt tantrischer Kultur ausgestorben.
- Yāmala
- Frühe Tradition ab dem 6. Jahrhundert
- Intensive Totensymbolik und grenzüberschreitende Praktiken auf Verbrennungsstätten
- stark schamanische Wurzeln
- Mantrapīṭha
- Nimmt einen Mittelweg zwischen linker und rechter Strömung ein.
- Wichtigster Text: Svacchandatantra ohne klar definierte Philosophie
- Legt den Schwerpunkt auf tantrische Praxis und Kosmologie
- Amṛteśvara
- Verehrt Amṛteśvara, eine Form Śivas als Bezwinger des Todes (auch „Mṛtyuñjaya-Śiva“)
- Anhänger mussten sich nicht auf eine Gottheit festlegen.
- Zentrale Rolle des Amṛteśvara Mantras
- Trika
- Wird oft als „Kaschmirischer Śivaismus“ bezeichnet, obwohl pan-indisch.
- Verehrt drei Göttinnen (parā, aparā, parāparā), legt großen Wert auf umfassende Philosophie.
- Bedeutender Text: Vijñāna Bhairava Tantra
- Basis für Abhinavaguptas spätere Śaiva-Werke
- Kālīkula, insbes. Krama
- Verehrung der Göttin Kālī, deren ultimative Natur formlos ist. (nicht zu verwechseln mit der Bengali-Göttin der Zerstörung)
- Radikalste, weiblichste, am stärksten grenzüberschreitende und non-dualistischte Śaiva-Tantrik-Gruppe.
- Verschmolz später mit der Trika-Schule durch Abhinavaguptas Lehren.
- Kaubjika
- Verehrung der komplexen Göttin Kubjikā.
- Verbindung zu Trika und Śrīvidyā
- Wichtiger Text Kubjikā-mata-tantra: Quelle für Cakra-System und Kuṇḍalinī Techniken, die bis in die heutige Zeit reichen.
- Śrīvidyā / Traipura
- Verehrung der Göttin Tripurasundarī, auch als Lalitā bekannt.
- Konzentration auf Praktiken, die die Lebensfreuden steigern.
- hat als einziger Sampradāya bis heute überlebt und trat später in die nicht-tantrische Vedānta-Tradition ein.
- Praktiken wurden von Nātha-Sampradāya (Guru-Linien von Matsyendra und Gorakṣanātha) übernommen und fanden so in Haṭha-Yoga.
Betrachten wir die Sampradāyas mit Bezug zu den oben erwähnten Strömungen (rechte und linke), so ergibt sich folgendes Bild: Je weiter links ein Sampradāya steht, desto mehr betonte er die folgenden Merkmale:
- Non-Dualismus
- Verehrung von Göttinnen
- Einbeziehung von Frauen
- Überschreitung von sozialen Normen
- Symbolik im Zusammenhang mit Tod und Sterben
- Charismatische Gurus
Auf der äußersten rechten Seite des Spektrums finden wir fast keine dieser Merkmale, und in der Mitte gibt es Gruppen, die einige Merkmale aufweisen und andere nicht.
Danach sind die wichtigsten Sampradāyas von rechts (1.) nach links (5.):
- Siddhānta: Konservativ, dualistisch, ritualistisch.
- Mantrapīṭha: Mittlerer Weg, minimal grenzüberschreitende Praxis, keine klar definierte Philosophie
- Śrīvidyā / Traipura: Göttin-Verehrung, grenzüberschreitende Elemente, Praktiken zur Steigerung der Lebensfreude
- Trika: Primär nicht-dualistisch, Verehrung von drei Göttinnen, Frauen als vollwertig Praktizierende
- Krama: Grenzüberschreitend, weiblich, radikal nicht dualistisch.
Alle Sampradāyas beziehen sich auf oben erwähnte Schriften (Tantras oder Āgamas), auf eigene Gottheiten, Praktiken und Mantras. Die anonym verfassten Schriften gelten als von Śiva selbst übermittelt (oder, im Falle der Krama, von Śakti selbst). Diese Texte waren oft geheimnisvoll, elliptisch formuliert und konzentrierten sich eher auf die Praxis als auf die Philosophie. Ein prominentes Beispiel unter vielen ist das Vijñāna Bhairava Tantra der Trika-Tradition, das 112 Praktiken beschreibt, um zur unmittelbaren Erfahrung des göttlichen oder universellen Bewusstseins (Vijñāna Bhairava) zu gelangen.
Die neun Sampradāyas des Śaiva-Tantra sind nicht getrennt zu betrachten, sondern als Teil eines Ganzen. Das kann man schon daran erkennen, dass Anhänger alle tantrischen Schriften als Ausdruck eines einheitlichen Bewusstseins, das aus den fünf Gesichtern des einen Śiva hervorgeht.
Im Laufe der Zeit wird die Śaiva-Tantra-Literatur zunehmend komplexer und man spricht von einer zweiten Phase der tantrischen Schriften.
9.-11. Jh: Zweite Phase der tantrischen Schriften
Während die Sampradāya-Texte der ersten Phase anonym verfasst wurden und als göttlich offenbart gelten, besteht die zweite Phase aus Werken namentlich bekannter Autoren. Diese waren häufig hochgebildet und verwendeten einen deutlich anspruchsvollen und kunstvollen Sanskrit-Stil. Ihre Schriften zielen darauf ab, die ursprünglichen Texte zu erläutern und auszulegen, zeichneten sich aber gleichzeitig durch eine stark philosophische Ausrichtung oder eine ausgefeilte Theologie aus.
Diese Autoren integrierten die vorherrschenden Wissens- und Logiktheorien ihrer Zeit und entwickelten schlüssige Systeme, die Vernunft, Schriftautorität und persönliche Erfahrung miteinander verbanden. Ihre Werke richteten sich nicht nur an andere Śaivas, sondern auch an Anhänger*innen anderer Traditionen und an Schüler*innen, wodurch sie intellektuell und spirituell prägend wurden.
Große Bedeutung von Trika und Krama in Kaschmir
In dieser Phase gewannen die Trika- und Krama-Schulen in Kaschmir an Bedeutung, vor allem zählten sie Vertreter aus dem Kreis gelehrter Meister und im Umfeld des königlichen Hofes zu ihren Eingeweihten. Diese hochgebildeten Gelehrte verliehen mit ihren Werke diesen beiden Schulen große Achtung und philosophische Tiefe. Einige dieser Autoren galten als vollständig befreite und erwachte spirituelle Meister. Ihre Worte wurden als besonders kraftvoll und aufschlussreich angesehen und boten einen einzigartigen Einblick in die Natur der Wirklichkeit. Mit der Zeit wurden ihre Erklärungen und Kommentare genauso hoch geschätzt wie die ursprünglichen Schriften, auf die sie sich bezogen.
Die Trika-Schule, oft als ‚Kaschmirischer Śivaismus‘ bekannt, konzentriert sich auf die Verehrung dreier Göttinnen. Ihr bedeutendster Vertreter, der Universalgelehrte Abhinavagupta, stammte aus dem Kaschmir-Tal, und sein Werk machte diese Schule weithin bekannt. Trika war jedoch, wie die meisten Śaiva-Traditionen, pan-indisch verbreitet und nicht auf Kaschmir beschränkt.
Die Krama-Tradition, eine Gruppe des Kālīkula Sampradāya, war für ihre radikalen und fortschrittlichen Ansätze bekannt. Der Name „Krama“ bedeutet „der Prozess“ oder „die Abfolge“ und spiegelt die Verehrung der verschiedenen Stufen des Denkens als Manifestationen der Göttin Kālī wieder. Krama kombinierte tiefgründige philosophische Ideen mit grenzüberschreitenden Methoden und stellte damit gesellschaftliche Normen ihrer Zeit in Frage. Trotz ihrer unkonventionellen Praktiken gewann die Krama-Schule in Kaschmir große Anerkennung und hatte einflussreiche Anhänger, darunter königliche Minister.
Die enge Wechselwirkung zwischen beiden Strömungen führte zu einer allmählichen Verschmelzung, die in dieser zweiten Phase tantrischer Texte ihren Höhepunkt fand. Besonders in den Werken Abhinavaguptas vereinen sich die tiefgründigen Ideen und Praktiken beider Schulen zu einer integrativen Lehre, die die spätere Ausrichtung des Śaiva-Tantra nachhaltig prägte.
Spanda und Pratyabhijñā - Zwei neue Schulen
In dieser zweiten Phase des Tantrismus entstehen die beiden bedeutenden Überlieferungslinien der Spanda- und Pratyabhijñā-Tradition:
Spanda-Traditionslinie
Die spirituellen Meister der Spanda-Traditionslinie (Vibration/Schwingung) stützen sich bei der Abfassung ihrer Werke sowohl auf die Trika- als auch auf die Krama-Schule und trieben damit eine Synthese voran, die in den Schriften selbst begonnen hatte. Der früheste und ursprünglichste dieser Meisterphilosophen war Vasugupta (ca. 825-875 n. Chr.). Er enthüllte den Text, der als Die Aphorismen des Śiva (Śiva-Sūtras) bekannt ist. Vasuguptas Schüler hieß Kallaṭa (ca. 850-900 n. Chr.). Sein großes Werk sind die Lehrverse über Schwingung (Spandakārikās). Zu beiden Werken gibt es mehrere Kommentare, die erst sehr viel später von anderen Autoren geschrieben wurden. Das zentrale Konzept dieses Werks ist, dass Gott nichts anderes ist als das vibrierende Pulsieren des Bewusstseins, das sich durch aufeinanderfolgende Phasen von Expansion und Kontraktion bewegt.
Pratyabhijñā-Tradition
Die Pratyabhijñā-Tradition wurde von Somānanda (ca. 900–950) begründet, der das Werk Śiva-Dṛṣṭi (Die Vision von Śiva) schrieb. Die Anhänger dieser Tradition betonen die befreiende Kraft des Wiedererkennens (Pratyabhijñā) der eigenen wahren Natur als Śiva. Somānandas Schüler, der große Siddha-Meister Utpaladeva (ca. 925–975), ist vor allem für sein philosophisches Hauptwerk bekannt: die Īśvara-pratyabhijñā-kārikā (Lehrverse über das Wiederkennen des Göttlichen). Dieses Werk, das der Pratyabhijñā-Tradition ihren Namen gab, ist sehr anspruchsvoll und reich an philosophischen wie mystischen Passagen.
Abhinavagupta (ca. 975–1025) verfasste sowohl einen Kommentar zur Śiva-Dṛiṣti als auch zwei umfangreiche Kommentare zur Īśvara-pratyabhijñā-kārikā, die fundamental für die Überlieferung der Pratyabhijñā-Tradition sind. Er ist einer der größten indischen Philosophen, Mystiker und Ästheten und der bedeutendste Vertreter des nondualen Śaivismus. Er verband frühere Traditionen (vor allem Trika und Krama) und beeinflusste spätere Entwicklungen tiefgreifend. Neben seinen prägenden Beiträgen zur Auslegung der Śaiva-Philosophie verfasste er auch wichtige Werke auf dem Gebiet der Ästhetik (z.B. Abhinavabhāratī-Kommentar zum Nāṭyaśāstra).
Sein Hauptwerk, Tantrāloka (Licht auf Tantra), ist eine umfassende Darstellung der tantrischen Philosophie und Praxis in über 5.800 Versen. Dieses Werk ist nicht nur ein Nachschlagewerk, sondern eine Synthese, die die Vielfalt tantrischer Schriften in ein schlüssiges, ganzheitliches System integriert. Abhinavagupta überbrückt Widersprüche zwischen Texten, die für unterschiedliche Kontexte entstanden sind, und schafft ein klar strukturiertes und zugleich komplexes Verständnis des Śaiva-Tantra.
Abhinava Guptas Schüler und Nachfolger, Kṣemarāja (ca. 1000–1050), war fast so produktiv wie sein Lehrer. Er schrieb einflussreiche Kommentare aus einer non-dualen Perspektive zu den wichtigsten Śaiva-Schriften der Zeit (z.B. zum Svacchandatantra, zu den Śivasūtras, zu den Spandakārikās) sowie eine Reihe von unabhängigen Werken. Darüber hinaus verfasste er das nur 20 prägnante Sūtras umfassenden Pratyabhijñā-Hṛdayam mit einem eigenen Kommentar. Dieses verdienstvolle Werk fasst die Lehren von Utpala Devas Īśvara-pratyabhijñā-kārikās klar und verständlich für jene Leser zusammen, die zwar spirituell veranlagt, aber nicht in der strengen Disziplin der logischen Philosophie ausgebildet sind. Das Pratyabhijñā-Hṛdayam wird von den Śaiva-Meistern in Kaschmir bis heute gelehrt.
Ab 12. Jh: Śaiva-Tantra nach der Blütezeit
Nach der Blütezeit des Śaiva Tantra, etwa 800–1200 n. Chr. (klassisches Tantra) änderten sich die Rahmenbedingungen erheblich. Das Aufkommen des Islam führte zur Auflösung der institutionellen Basis und damit zum Ende der finanziellen Förderung von Śaiva-Tantra-Traditionen. Wichtige Entwicklungen waren:
- “Links Ruck”
Durch den Bedeutungsverlust zentraler Tempel- und Klosterstrukturen gerieten dezentral organisierte, „linke“ Kaula-Linien in den Vordergrund der Tradition. - Grenzüberschreitende Praktiken
Kaula-Gruppen wurden im Lauf der Zeit verstärkt mit körperbetonten und grenzüberschreitenden Praktiken in Verbindung gebracht. - Wandernde Sādhus
Wandernde, entsagende, asketische Tantrik-Yogīs wurden zu den Hauptträgern der Tradition. - Ruf des Tantra
Aufgrund von öffentlich demonstrierten, “magischen” Ritualen mit weltlichen Zielen und wenig transparenten Praktiken - selten systematisch dokumentiert — litt das öffentliche Ansehen der Tantra-Tradition. - Rückgang weiblicher Praktizierender
Die Tradition verlor eine wichtige Balance, weil der Anteil der Frauen, die einst essenzieller Teil tantrischer Tradition waren, immer mehr zurückging.
Ab 12. Jh: Entstehen des Haṭha Yoga
Unter wandernden asketischen Yogīs war der Nātha-Sampradāya, ein Śaiva-Klosterorden mit Kaula tantrischen Wurzeln, besonders bedeutend. Ihre legendären Gurus Matsyendra und Gorakṣanātha werden mit vielen Lehren und Texten des Haṭha-Yoga in Verbindung gebracht.
Sie praktizierten u. a. tantrische Rituale und die yogische Praxis zur Erweckung der Kuṇḍalinī-Energie, die ursprünglich aus zwei Sampradāyas (Śrīvidyā und Kaubjika) hervorgingen. Viele weitere Aspekte aus den tantrischen Texten, wie z. B. cakras, nāḍīs, prāṇas/vāyus etc. sind in Haṭha Yoga Texten wiederzufinden. So wurde das nicht-dualistische Śaiva Tantra eine der vielen Quellen für den Haṭha Yoga.
Ab 14. Jh: Spätes Tantra
Zwischen 1400 und 1800 n. Chr. prägte das späte Tantra eine verschmelzende und weitgehend philosophiefreie Phase. Texte aus Süd- und Ostindien dokumentieren diese Ausrichtung, die sich fast ausschließlich auf die Praxis (sādhanā) konzentrierte. Dabei standen Mantra, Yantra und Visualisierung im Mittelpunkt, um die Kräfte einer spezifischen Gottheit zu verkörpern. Im Gegensatz zur klassischen Tantra-Tradition, in der die Gottheit als eine übergreifende göttliche Einheit verstanden wird, dient sie hier nur der Erreichung spezifischer weltlicher Ziele.
Modernes Tantra Erbe ist vielfältig
In der Kolonialzeit hatten tantrische Schriften und Rituale bei den Śākta-Brahmanen in Bengalen immer noch einen hohen Stellenwert. Durch die zahlreichen Bücher von Sir John Woodroffe (“Arthur Avalon”) werden diese weltweit bekannt und prägen das moderne Wissen über das hinduistische Tantra maßgeblich.
In der postkolonialen Ära entstanden transnationale Bewegungen wie Siddha Yoga, Ānanda Mārga und Sahaja Yoga, die Tantra explizit betonen, während Philosophen wie Śrī Aurobindo es tiefgründig philosophisch interpretieren. Oshos lukrative globale „Neo-Tantra-Bewegung“ erweckt den Eindruck, die linke Tantra-Strömung fortzuführen, ist aber nur eine Art moderne Imitation. Die Verbindung von Tantra und „New-Age-Gedankengut“ reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück und wurde durch die Theosophische Gesellschaft ins Leben gerufen.
Der heutige Hinduismus hat sich von seinen tantrischen Wurzeln entfernt, da Tantra oft negativ assoziiert wird. Während fast alle tantrischen Traditionen im 20. Jahrhundert an Einfluss verlieren oder in Verruf geraten, erleben traditionelle tantrische Systeme wie Śrīvidyā und der sog. kaschmirische Śivaismus eine Art Wiederbelebung.
Trotz der Distanz, die der moderne Yoga zu seinen ursprünglichen tantrischen Wurzeln zeigt, bleibt die Verbindung beispielsweise über die Legenden um Gorakṣa und Matsyendra erhalten. In der heutigen Yogapraxis finden sich immer noch Elemente, die auf tantrische Quellen zurückgehen — etwa das Cakra-System oder bestimmte Meditationstechniken. Für spirituell interessierte Yogapraktizierende eröffnet das klassische Śaiva Tantra bis heute einen tiefen Einblick in die philosophischen und rituellen Wurzeln der eigenen Übungspraxis.
Quellen
Goodall, Dominic & Isaacson, Harunaga: “Tantric Traditions.” In: Jessica Frazier (Hrsg.), The Continuum Companion to Hindu Studies, London: Continuum, 2011.
Hatley, Shaman: “Tantra (Overview).” In: Brill’s Encyclopedia of Hinduism, Band 6, Leiden: Brill, 2015.
Sanderson, Alexis: “Śaivism and the Tantric Traditions.” In: S. Sutherland, L. Houlden, P. Clarke & F. Hardy (Hrsg.), The World’s Religions, London: Routledge, 1988.
Wallis, Christopher: Tantra Illuminated: The Philosophy, History, and Practice of a Timeless Tradition. San Rafael, CA: Mattamayūra Press, 2013.
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