Ursprung der Sukhopāyas
Erster Nachweis
Die Sukhopāyas werden erstmals von Kṣemarāja (um 1000–1050), einem direkten Schüler Abhinavaguptas, erwähnt. In seinem Kommentar zu den Śiva-Sūtras (Śiva-Sūtra-Vimarśinī) beschreibt er eine Reihe leicht zugänglicher Techniken. In dem späteren Pratyabhijñā-hṛdayam bezeichnet er diese ausdrücklich als „einfache Mittel“ (sukhopāyāḥ). Diese Techniken werden daraufhin ein Merkmal der Pratyabhijñā-Tradition.
Inspiration der Techniken
Kṣemarāja schöpft seine Inspiration aus älteren tantrischen Quellen wie dem Vijñāna Bhairava Tantra, in dem bereits ähnliche Übungen vorkommen. Er entwickelt daraus jedoch eine eigene Systematik und erläutert sie in einer klaren, alltagstauglichen Form.
Philosophischer Hintergrund
Der Begriff Upāya ist in der Trika-Lehre verankert, die von Abhinavagupta (ca. 975–1025) maßgeblich geprägt wurde. In dieser Lehre unterscheidet man vier Zugangswege (upāya):
- Āṇavopāya – „Weg der Individualität“ (Atem-, Konzentrations- oder Mantra-Übungen)
- Śāktopāya – „Weg der Energie“ (Verlagerung auf subtilere Bewusstseinsebenen)
- Śāmbhavopāya – „Weg des göttlichen Willens“ (spontane Erkenntnis, Identifikation mit Śiva)
- Anupāya – „kein Weg“ (völlig müheloses Sein in der eigenen göttlichen Natur)
Die Sukhopāyas sind daher eine Abwandlung der Upāyas und sind somit keine völlige Neuschöpfung Kṣemarājas, sondern eine didaktische Zusammenstellung und Kommentierung bereits existierender tantrischer Übungen. Er betont hierbei besonders ihre leichte Umsetzbarkeit im spirituellen Alltag.
Ziel
In den Sukhopāyas verknüpft Kṣemarāja Techniken aus dem Vijñāna Bhairava Tantra mit Abhinavaguptas System der Zugangswege (upāya). Der erste sukhopāya, vikalpakṣaya, stammt aus der Īśvarapratyabhijñākārikā.
Kṣemarājas Anliegen besteht darin, Praktizierenden einen unmittelbaren Zugang zur Selbst-Erkenntnis (pratyabhijñā) zu eröffnen, indem er alternative Methoden vorstellt, die die Notwendigkeit komplexer Kontrolltechniken wie Prāṇāyāma, Mudrā und Bandha überflüssig machen. Er zielt also nicht darauf ab, diese Techniken grundsätzlich auszuschließen, sondern bietet einen Weg, der sie obsolet erscheinen lässt.
Kṣemarāja bringt dies mit folgenden Worten zum Ausdruck:
upāyāntaram api tūcyate prāṇāyāma-mudrā-bandhādi-samasta-yantraṇā-tantra-troṭanena sukhopāyam eva.
Aber hier wird ein alternativer Weg gelehrt – ein durchaus angenehmer Zugang, der die Notwendigkeit sämtlicher Methoden des Kontrollierens wie Prāṇāyāma, Mudrā, Bandha und aller übrigen aufwendigen Techniken völlig überflüssig macht.
Diese Aussagen unterstreichen, dass Kṣemarājas Lehre einen alternativen, leicht zugänglichen Pfad anbietet. Statt aufwendigen Techniken bieten die Sukhopāyas einfache, aber wirkungsvolle Methoden. Ihr primärer Zweck ist die Ausdehnung der Mitte: madhya-vikāse yuktim āha. Wenn die Mitte ausgedehnt ist, wird die Freude des Bewusstseins cidānanda erfahren und daraus entsteht die Befreiung zu Lebzeiten (jīivan-mukti).
Ein weiteres Merkmal dieser Lehren ist die Flexibilität der Praxis: Kṣemarāja betont, dass man weitere Methoden schlussfolgern kann und dass es noch mehr Methoden gibt:
evam anyad api ānanda-pūrṇa-svātma-bhāvanādikaṃ anumantavyam |
ity evam ādayaḥ atra madhya-vikāse upāyāḥ || 18 ||
Ebenso ist auch Anderes, wie etwa die Meditation auf das Selbst in freudiger Fülle, zu empfehlen. Dies und andere, hier nicht näher ausgeführte Methoden sind in unserem System die Mittel zur Erweiterung des Zentrums.
Dadurch werden die Sukhopāyas zu einem Bindeglied zwischen der anspruchsvollen Philosophie des kaschmirischen Śivaismus und einer breiteren Gemeinschaft von Suchenden, die im Alltag eine direkte Erfahrung des Göttlichen anstreben.
Die Sukhopāyas im Pratyabhijñā-hṛdayam
Nachdem Kṣemarāja die Sukhopāyas als „einfache Mittel“ zur Ausdehnung der Mitte eingeführt hat, widmet er sich in seinem Werk Pratyabhijñā-hṛdayam (Das Herz der Wiedererkennungslehre) ihrer genaueren Beschreibung. Dieses Werk fasst die zentralen Lehren der Pratyabhijñā-Tradition in einer kompakten, zugänglichen Form zusammen und erläutert, wie Praktizierende ohne komplexe Rituale oder anspruchsvolle Übungen die Ausdehnung der Mitte (madhya-vikāsa) erfahren können. Wenn das kosmische Bewusstsein (citi) sich manifestiert, wird es als erstes in Lebensenergie (prāṇa) transformiert und diese ist vor allem im zentralen Energiekanal (madhya / madhyanāḍī / suṣumnā) präsent. Alle Prozesse entstehen aus Madhya heraus und kommen in Madhya zur Ruhe. Kṣemarāja vergleicht den mittleren Energiekanal mit der Mittelrippe des Blattes einen Palāśa-Baumes (siehe Bild zu Sūtra 17).
Im Kommentar zum Sūtra 18 des Pratyabhijñā-hṛdayam werden die Sukhopāyas beschrieben. Aber zuvor verweist Kṣemarāja auf fünf Methoden, die bereits in den Sūtras 13, 15 und 16 beschrieben sind:
- Sūtra 13 – Erkenntnis, dass das Selbst die fünf Handlungen (pañca-kṛtyāni) ausführt.
- Sūtra 15 – Fokussierung auf Schöpfung und Zurückziehen bei gleichzeitiger Ausdehnung und Zusammenziehen der Sinne.
- Sūtra 16 – Festigung des Einheitsbewusstseins.
Danach ergänzt Kṣemarāja diese Methoden mit insgesamt neun Sukhopāyas. Diese beschreibt er ausführlich (Sūtra 18 mit Kommentar dazu) und untermauert sie mit Zitaten aus unterschiedlichen tantrischen Texten. Nur eines dieser Sukhopāyas – vikalpa-kṣaya (Auflösen der mentalen Konstruktionen) – findet sich auch im Hauptwerk der Pratyabhijñā-Tradition. Die übrigen Techniken entstammen ebenfalls der tantrischen Überlieferung, wurden jedoch bislang nicht explizit in dieser Form zusammengefasst.
Im nächsten Abschnitt findest Du die neun Sukhopāyas detailliert vorgestellt:
(1) vikalpa-kṣaya – Auflösen der mentalen Konstruktionen
Bei dieser sehr subtilen Methode geht es darum, die mentalen Konstruktionen (vikalpas), die unser Geist von der Wirklichkeit erzeugt, zum Stillstand zu bringen. Aufgrund von Erfahrungen entstehen Prägungen (saṃskāras), und diese lassen uns die Wirklichkeit nicht so wahrnehmen, wie sie ist, sondern gefärbt durch unsere individuellen Prägungen. So hindern uns vikalpas daran, in uns selbst zu ruhen (sva-sthiti-pratibandhaka). Die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, wird mit dem Selbst wahrgenommen, bevor der Geist einen Gedanken dazu formuliert.
Aus Kṣemarājas Kommentar lassen sich folgende fünf Schritte für die Auflösung von vikalpas ableiten:
- Den Geist aufs Herz fixieren (hṛdaye nihita-citta)
„Herz“ steht hier für das Bewusstsein an sich. Es geht darum, sich nicht auf einzelne Objekte zu konzentrieren, sondern auf die Tatsache, bewusst zu sein. Z. B. durch gleichzeitige Wahrnehmung aller Phänomene, die sich gerade zeigen und auch dessen, was sich zeigen könnte. - An nichts Bestimmtes denken (akiṃcic-cintakatva)
Man könnte z. B. den Inhalt der Gedanken als unwichtig erachten und sich stattdessen auf das Bewusstseinsfeld konzentrieren, in dem Gedanken entstehen und vergehen. - In Kontakt kommen mit der Realität, die keinen mentalen Konstruktionen unterliegt (avikalpa-parāmarśa)
Das bedeutet, sich zu vertiefen in das, was sich zeigt, bevor ein Gedanke darüber entsteht. Durch das unmittelbare Wahrnehmen der gegenwärtigen Phänomene ohne Benennung könnte man mit avikalpa in Kontakt kommen. - Sich darauf konzentrieren, dass nur das eigene Bewusstsein der Wissende ist (sva-cit-pramātṛtā)
Alles, was man erlebt, entsteht aus dem Bewusstsein, das man selbst ist. - Wahrnehmung, dass dieses Bewusstsein unbeeinträchtigt ist von Identifikation mit dem Körper usw. (dehādi-akaluṣa)
Körper, Geist und alle anderen Phänomene entstehen innerhalb des Bewusstseins. Selbst wenn sie durch Schmerz oder anderes beeinträchtigt werden, ändert das nichts an der Natur des Bewusstseins.
Kṣemarāja verspricht, dass man durch diese Praxis in sehr kurzer Zeit (acira) in die sogenannten turya- und turyātīta-Zustände kommt. Diese liegen jenseits der drei alltäglichen Bewusstseinsstufen Wachen, Träumen und Tiefschlaf und sind erfüllt von der Freude des Bewusstseins (cid-ānanda-ghana).
Zum einfachen Umsetzen:
- Setze dich aufrecht hin
- Deine innere Haltung sollte sanft, offen, zentriert und entspannt sein
- Konzentriere dich auf deine Mitte / dein Herz / Madhya-madyha (die Mitte deiner Mitte)
- Denke an nichts Konkretes, sondern eher darauf, woher die Gedanken kommen und wohin sie gehen, als ob sie wie eine Welle aus dem Meer auftauchen und wieder dahin abtauchen
- Achte hierbei allein auf die Form, d.h. die Energie und die Vibration, wie auf die Energie einer fremden Sprache, die du nicht verstehst
- Konzentriere dich nicht auf den Inhalt
- Benenne oder bewerte nicht und identifiziere dich nicht mit ihnen
- Vertiefe dich auf das, was ist, bevor ein Gedanke auftaucht
- Nimm wahr, was unten drunter, tief im Meer existiert
- Nimm den dort sich befindenden friedvollen Geist wahr
(2) śakti-saṅkoca – Zusammenziehen der Energie
Kṣemarāja gibt zwei Varianten für das Zusammenziehen der Energie:
- Zurückbeugen (ākuñcana) der Energie, während sie durch die Tore der Sinne (indriya-dvāra) herausfließt.
Während ich etwas sehe, höre usw., nehme ich die Energie wahr, mit der meine Sinne auf die Welt treffen, und ziehe einen Teil davon zurück, ohne sie dabei zu verändern. Im Alltag könnte das bedeuten, sich bewusst zu machen, wie jede Handlung in Verbindung mit dem Herzzentrum (hṛdaya) steht, ohne jedoch etwas zu benennen oder zu beurteilen.
Zum einfachen Umsetzen:
- Nimm mit den Sinnesorganen deine Umgebung / das gesamte Feld wahr
- Behalte eine zweite Aufmerksamkeit bei dir im Herzen verankert
- Nimm deine Umwelt von innen heraus nonverbal wahr, ohne nach dem Warum zu fragen
- Konzentriere dich auf das Wie der Wahrnehmung innerhalb deines Herzraumes
- Werde deiner eigenen Energien vertraut: „wie fühlt sich das an?“
- Vollständige Umkehr (sarvato nivartana) der Energie, während sie herausfließt.
Wie eine Schildkröte, die ihre Glieder einzieht (kūrmāṅga-saṅkocavat), wenn sie sich erschrickt (trāsa-samaye). Bei dieser zweiten Variante wird die gesamte herausfließende Energie zurückgezogen. Man könnte beispielsweise in einem Moment intensiver Emotionen – soweit möglich – die Sinnestore schließen, die Energie ins Zentrum ziehen, sie vollständig spüren und sie nach einer Weile wieder gehen lassen.
Zum einfachen Umsetzen:
- Nimm die herausfließende Energie aus deinem Herzinnenraum wahr
- Ziehe sie zurück und führe sie in den zentralen Kanal
- Spüre die Energieform als pure Energie vollständig
- Löse sie in der Mitte auf und lasse sie gehen
(3) śakti-vikāsa – Ausdehnung der Energie
Diese Methode setzt voraus, dass die Energie zuvor nach innen gezogen wurde. Es geht um die plötzliche Ausdehnung (visphāra) der Energie von der Mitte (madhya) aus in das gesamte Wahrnehmungsfeld, wobei die Mitte stets im Bewusstsein bleibt. Die Energien der Sinne sowie die Gedanken und Gefühle werden gleichzeitig in das jeweilige Sinnesfeld „geworfen“ (kṣip). So kann unmittelbar wahrgenommen werden, dass alles eine Schwingung von Bewusstsein ist, die von der Mitte (madhya), der „goldenen Säule“ (hāṭaka-stambha), ausgeht.
Zum einfachen Umsetzen:
- Ziehe zuerst deine gesamte Energie nach innen (Sakti-sankoca 2. Variante)
- Dehne die Energie von innen auf das gesamte Feld aus
- Nimm mit allen Sinnen gleichzeitig wahr, behandle alle Energien gleich
- Gleichzeitig bleibt das Bewusstsein in der Mitte innerhalb der goldenen Säule
- Oszilliere zwischen dem mittleren Kanal und dem Außen hin und her
- Die Augen bleiben dabei weit geöffnet, während die Verbindung mit dem inneren Kanal bestehen bleibt
(4) śakti-saṅkoca-vikāsa – Ausdehnung und Zusammenziehen der Energie
Hier wird deutlich, dass es in dieser Lehre zwei kuṇḍalinīs gibt, eine obere (ūrdhva) und eine untere (adhas). Beide müssen gleichzeitig aktiviert werden, damit sie sich in der Mitte treffen und verschmelzen. So entsteht der Zustand der Befreiung zu Lebzeiten (jīvan-mukti). Kṣemarāja beschreibt zwei Techniken:
- Aktivierung der oberen Kuṇḍalinī-Energie (ūrdhva-kuṇḍalinī)
durch Vibration in der Nasenhöhle (nāsāpuṭa-spandana). Diese Vibration schwingt beim Einatmen abwärts mit dem Bīja Mantra “hrīṃ” und beim Ausatmen aufwärts mit dem Bīja Mantra “hrauṃ”. Hierbei handelt es sich um die sog. Uccãra-Praxis, die man ohne genaue Anleitung nicht durchführen sollte. - Aktivierung der unteren Kuṇḍalinī-Energie (adhas-kuṇḍalinī)
durch Umwandlung bzw. Integration sexueller Energie.
Hier nennt Kṣemarāja drei sehr spezifische Begriffe, um die Aktivierung dieser Kuṇḍalinī zu beschreiben und er zitiert dabei Vijñāna Bhairava 68:
vahner viṣasya madhye tu; cittaṃ sukha-mayaṃ kṣipet |
kevalaṃ vāyu-pūrṇaṃ vā; smarānandena yujyate || 68 ||
(Beim Liebesspiel) soll man seinen Geist (cittaṃ | acc sg), der aus Glückseligkeit besteht (sukha-mayaṃ | acc sg), in der Mitte (madhye | loc sg) zwischen dem ‚Feuer‘ (vahner | gen sg) [das die Entzündung des Begehrens zu Beginn symbolisiert] und dem ‚Gift‘ (viṣasy | gen sg) [das das allumfassende Bewusstsein der Beruhigung am Ende darstellt] fortwerfen (kṣipet | 3p sg). Er, der den Atem gelöst (kevalaṃ | nom sg) oder (vā) erfüllt (vāyu-pūrṇaṃ | nom sg) anhält, wird er mit der Glückseligkeit der Leidenschaft (smarānandena | ins sg) [die durch die Vereinigung von Śiva und Śakti entsteht] vereinigt (yujyate | 3p sg pass) (Vers 68).
Kṣemarāja erläutert die Techniken nur sehr grob und nutzt spezifische tantrische Fachbegriffe, sodass ein tieferes Verständnis andere Erklärungen (z. B. aus zusätzlichen Texten) erfordert.
(5) vāha-cheda – Unterbrechung der Ströme
Hier geht es um die Aktivierung der Energie (prāṇa und apāna) im Herzzentrum durch Unterbrechung des Energiestromes. Nachdem die Energie im Herzzentrum zur Ruhe kommt (hṛdaya-viśrānti-puraḥsara), erfolgt die Unterbrechung durch das innerliche Aussprechen eines vokallosen Konsonanten wie z. B. „k“ oder „h“ (antaḥ kakāra-hakārādi-varṇoccāra). Dabei bleibt die Konzentration im Herzzentrum.
Mögliche Umsetzung
Man atmet zum Herzen hin ein, hält den Atem dort und „bereitet sich innerlich darauf vor“, den Buchstaben „k“ (oder ein Wort, das damit beginnt) zu sprechen, bis der Drang zum Ausatmen kommt. Beim Ausatmen spricht man den Buchstaben oder das Wort jedoch nicht tatsächlich aus und bleibt weiter mit der Aufmerksamkeit im Herzzentrum.
Zum einfachen Umsetzen:
- Nimm eine Meditationshaltung ein
- Führe ein paar tiefe Atemzüge durch
- Atme lang aus
- Atme tief ins Herz ein
- Halte prana Energie im Herzen, so dass du dich „voll“ fühlst und halte den Atem an
- Sprich innerlich ein „K“ oder ein „H“ aus
- Verbinde dich mit dem Herzzentrum und spüre den schwangeren Zustand und die Stille
- Atme ohne einen Konsonanten aus
- Wiederhole den Zyklus nach Belieben mehrmals
(6) ādyanta-koṭi-nibhālana – Konzentration auf den Anfangs- und Endpunkt
Der „Anfangspunkt“ ist das Herz (hṛdaya); der „Endpunkt“ ist der sogenannte dvādaśānta, das „Ende“ (anta) zwölf (dvādaśa) Fingerbreit über dem Kopf. Dieser Punkt markiert die oberste Grenze des Energiekörpers. Wenn prāṇa auftaucht (ullāsa) oder zur Ruhe kommt (viśrānti), soll man sich auf diese beiden Punkte konzentrieren – dies ist laut Kṣemarāja die Kultivierung (pariśīlana) der Praxis der Beruhigung des Geistes (citta-niveśana).
Mögliche Umsetzung
Man stellt sich vor, dass der Ausatem vom Herzzentrum aus senkrecht durch den Zentralkanal nach oben strömt, aus dem Scheitel hinaus und am dvādaśānta „zur Ruhe kommt“. Dann visualisiert man, wie der Einatem von dort in den Zentralkanal hinabfließt und im Herzzentrum erneut zur Ruhe kommt. Durch konzentrierte Aufmerksamkeit lässt sich prāṇa auf diese Weise visualisieren, auch wenn der physische Atem tatsächlich durch Nase oder Mund fließt.
Kṣemarāja zitiert hierzu die Verse 49 und 51 des Vijñāna Bhairava Tantra, um die Bedeutung beider Punkte zu erklären. Vers 51 verspricht eine Veränderung innerhalb von Tagen, wenn diese Praxis regelmäßig im Alltag angewandt wird:
yathā tathā yatra tatra dvādaśānte manaḥ kṣipet |
pratikṣaṇaṃ kṣīṇa-vṛtter vailakṣaṇyaṃ dinair bhavet || 51 ||
„Wo immer man ist, was immer man tut, soll man sein Denken auf den dvādaśānta richten.
Innerhalb von Tagen wird durch beständig schwindende geistige Unruhe ein transformierter Zustand entstehen.“ (Vers 51)
Zum einfachen Umsetzen:
- Atme vom Herzpunkt (hrdayam) vertikal den Kanal nach oben aus
- Verweile am Ende der Ausatmung 12-Fingerbreit über dem Scheitel (dvadasanta)
- Komme dort zur Ruhe
- Atme von dort nach unten in den tiefsten Punkt deines Herzzentrums ein
- Verweile auch hier und komme zur Ruhe
- Nimm jeweils die Atemenergie nach den Pausen wahr
(7) unmeṣa-daśā-niṣevaṇa – Beschäftigung mit der Phase der Entfaltung
Kṣemarāja beschreibt hier die erste Praxis, die unter „etc.“ im Sūtra zu verstehen ist. Es handelt sich um die Phase (daśā), in der man bereits mit einem Gedanken oder Vorgang beschäftigt ist und ein neuer Gedanke, Impuls oder ein Wechsel eintritt. Diese Phase der Entfaltung (unmeṣa) von etwas Neuem soll bewusst wahrgenommen werden.
Dahinter steht die Auffassung, dass allein das Bewusstsein die Quelle aller Wechsel und Entfaltungen ist. Dabei geht es nicht um den Inhalt (der durch unsere Prägungen gefärbt ist), sondern um die pure Energie der Entfaltung, die aus dem Bewusstsein selbst entspringt.
Eine erste Annäherung an diese subtile Praxis wäre, im Alltag zu bemerken, wenn sich z. B. eine andere Stimmung oder ein anderer Gedankenfluss ankündigt. Diesen sehr feinen Augenblick der Veränderung nimmt man möglichst lange ohne Benennung oder Analyse wahr.
Zum einfachen Umsetzen:
- Nimm eine Meditationshaltung ein
- Lasse den Atem frei fließen
- Konzentriere dich auf den Energiewechsel von einem Gedanken zum nächsten, von einer Emotion zur nächsten
- Werde in der Beobachtung langsamer
- Beobachte mit Neugier und Faszination den Wechsel innerhalb der inneren Wahrnehmung
- Konzentriere dich auf die Wahrnehmung und das Fühlen, benenne und analysiere nicht
- Öffne dich für die Stille, den Raum zwischen dem Energiewechsel
- Öffne dich für die wahre Natur, die in diesem Raum entstehen kann
- Lass Inspirationswellen in diesem Raum entstehen
- „Ich bin die Quelle aller Inspirationen“
- Frage dich „Wie fühlt es sich an, ich selbst gerade zu sein?“ und fühle die Antwort
(8) ramaṇīya-viṣaya-carvaṇa – Genuss eines schönen Sinnesobjektes
Kṣemarāja gibt keine eigene Beschreibung, sondern zitiert drei Verse aus dem Vijñāna Bhairava Tantra. Dort werden Beispiele wie gutes Essen (jagdhi), Trinken (pāna) oder Gesang (gīta) genannt, die so genossen werden sollen, dass man den Zustand der Fülle durch diesen Genuss wahrnehmen kann. Lässt man den Geist (manas) dort verweilen, wo er Freude (tuṣṭi) hat, stellt sich höchste Glückseligkeit (parānanda) ein.
Es geht nicht nur um das Genießen an sich, sondern auch darum, die Aufmerksamkeit so lange zu halten, dass man bemerkt, wie die Erfahrung allmählich verblasst und wohin sie sich auflöst – sodass keine Prägung (saṃskāra) zurückbleibt (vgl. Sūtra 11).
Zum einfachen Umsetzen:
- Konzentriere dich mit deiner gesamten Aufmerksamkeit auf den Genuss eines Sinnesobjektes
- Absorbiere das Objekt komplett
- Nimm es in seiner gesamten Fülle und Schönheit wahr
- Koste es voll aus, indem du ihm dein ästhetisches Bewusstsein schenkst
- Lass es nach dem Genuss ohne Anhaftung verblassen
(9) ānanda-pūrṇa-svātma-bhāvanā – Meditation über das eigene Selbst, wenn es voller Freude ist
Zum Schluss erläutert Kṣemarāja, dass man weitere Praktiken ableiten kann, wie zum Beispiel die Meditation (bhāvanā) auf das eigene Selbst (svātma), wenn es voll (pūrṇa) Freude (ānanda) ist.
Im Vijñāna Bhairava Tantra finden sich in den Versen 65 und 71 Beispiele für diese Praxis:
sarvaṃ jagat svadehaṃ vā svānandabharitaṃ smaret |
yugapat svāmṛtenaiva parānandamayo bhavet || 65 ||
„Meditiere über deinen eigenen Körper (svadeha) oder die ganze Welt (sarva-jagat) als voll von deiner eigenen Freude (svānanda-bharita). Dann wirst du durch deinen eigenen ‚Nektar‘ (svāmṛta) plötzlich höchste Glückseligkeit (parānanda) erfahren.“ (Vers 65)
ānande mahati prāpte dṛṣṭe vā bāndhave cirāt
ānandam udgataṃ dhyātvā tallayas tanmanā bhavet || 71 ||
„Wenn du große Freude (mahānanda) empfindest – etwa, wenn du einen geliebten Menschen nach langer Zeit wiedersiehst –, dann meditiere darüber. Lasse deinen Geist darin aufgehen (laya), werde eins mit dieser Freude.“ (frei nach Vers 71)
Damit endet die Beschreibung der Sukhopāyas im Pratyabhijñā-hṛdayam.
Zum einfachen Umsetzen:
- Nimm eine für dich angenehme Haltung ein
- Verbinde dich mit deinem Herzen
- Rufe dir aus der Erinnerung einen Zustand der Freude ins Bewusstsein
- Verweile in dieser Freude, so dass sie sich in deinem Zentrum ausbreitet
- Verankere die Freude in dir
Vom Text zur Praxis – Der Weg der Sukhopāyas
Abschließend lässt sich sagen, dass die Sukhopāyas des Pratyabhijñā-hṛdayam einen direkten und praktikablen Zugang zur höchsten spirituellen Erkenntnis bieten – auch unabhängig von einer persönlichen Unterweisung und formellen Initiation durch einen Guru. Wie Bettina Bäumer betont, lassen die tantrischen Texte (Āgamas) selbst diese Möglichkeit offen, da die höchste Erfahrung auch durch die offenbarten Texte erreicht werden kann. Entscheidend ist die kontinuierliche Praxis mit konzentrierter Aufmerksamkeit, die zur Verinnerlichung und die wiederum zu vertiefter Übung führt. Die Methoden des Textes sind offen für Personen außerhalb der Tradition und auch für verschiedene religiöse Zugehörigkeiten. So ermöglichen sie auch heute eine tiefgehende spirituelle Erfahrung. Damit bestätigt sich der abschließende Vers des Pratyabhijñā-hṛdayam, der verkündet, dass durch die Unterweisung dieses Textes der Zustand des universellen Bewusstseins erlangt werden kann – eine Erkenntnis, die weit über historische oder kulturelle Grenzen hinausreicht.
Quellen
Wallis, Christopher D. The Recognition Sutras: Illuminating a 1,000-Year-Old Spiritual Masterpiece (English Edition) (S.482). Mattamayura Press. Kindle-Version.
Bäumer, Bettina Vijñāna Bhairava Tantra Das göttliche Bewusstsein, Verlag der Weltreligionen, 6. Auflage 2021
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Katrin Goldman
Dr. Ronald Steiner
Bärbel Münchow
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