AYI steht nicht nur für absolute Offenheit in Bezug auf neue Techniken und wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch für eine lebendige, moderne Philosophie. In der AYI Inspired Ausbildung, die am 29. September 2023 im Mattengold Yoga & Pilates in Stuttgart startet, behandeln wir deshalb neben den klassischen Yogaschriften auch den Integralen Yoga von Sri Aurobindo und die Integrale Philosophie Ken Wilbers. Sri Aurobindo, der als der vielleicht größte spirituelle Denker des 20. Jahrhunderts gilt, hat mit seinen Beschreibungen der höheren Bewusstseinsebenen maßgeblich den Weg für die Integrale Philosophie geebnet. Ralf Rossnagel, Inhaber des Mattengold-Studios, Leiter der AYI Inspired Ausbildung in Stuttgart und Autor des folgenden Textes über Leben und Lehre Sri Aurobindos, beschäftigt sich seit 25 Jahren mit Integraler Philosophie. Er ist AYI Expert Lehrer, Journalist und Integral Business Practitioner.

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Am 29. September 2023 startet eine AYI Inspired Yogalehrer*innen Ausbildung im Mattengold Yoga & Pilates in Stuttgart. Der integrale Yoga Sri Aurobindos ist Teil der Ausbildung, ebenso wie die Integrale Philosophie Ken Wilbers, der sich in den Beschreibungen der höheren Bewusstseinsstufen häufig auf Sri Aurobindo bezieht.

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Das Abenteuer des Bewusstseins

 

Sri Aurobindo war eine faszinierende Persönlichkeit. Und ein großer Visionär und Denker. Auch wenn er bis heute nicht „die ihm zustehende Anerkennung erfährt“, wie der Indologe Georg Feuerstein schreibt, so haben seine Lehren dennoch einen großen Einfluss auf die spirituelle Praxis und Philosophie nicht nur in Indien, sondern auf der ganzen Welt. Der integrale Philosoph Ken Wilber bezeichnet ihn gar als einen der einflussreichsten spirituellen Denker des 20. Jahrhunderts.

Sri Aurobindo war ganz ohne Zweifel ein Universalgenie. Er war ein Gelehrter, er war Philosoph und Dichter, er war Politiker und Revolutionär. Vor allem aber war er „ein Seher, der die kommende Evolution schaute“, wie einer seiner bedeutendsten Schüler, Satprem, schrieb. Und das machte Sri Aurobindo so einzigartig. Er selbst sah sich nicht nur als Erforscher des Bewusstseins, sondern auch als Baumeister einer neuen Welt. Denn „was nützt es, das Bewusstsein zu ändern, wenn die Welt um uns so bleibt, wie sie ist?“, fragte er. Seine konsequente Forderung, die spirituelle Praxis und Entwicklung mit einer Verantwortung für die Gesellschaft und die Welt zu verbinden, macht seine Lehre brandaktuell.

Ein Kind des Westens

Sri Aurobindo wurde am 15. August 1872 in Kalkutta geboren. Doch vom 8. bis zum 20. Lebensjahr lebte er in England, wo er auf Wunsch seines Vaters eine konsequent westliche Erziehung erhalten sollte. Dieser hatte in England Medizin studiert und er wollte seine drei Söhne – der jüngste war Sri Aurobindo, sein Lieblingssohn – davor bewahren, von diesem rückständigen Mystizismus Indiens angesteckt zu werden. Sie sollten nichts von der Überlieferung und den Sprachen Indiens kennen.

Die drei Brüder wuchsen zunächst in der Obhut eines anglikanischen Pfarrers in Manchester auf, der die strenge Anweisung hatte, alles Indische von ihnen fernzuhalten. Sie sollten keinen Inder kennenlernen und keinen indischen Einflüssen ausgesetzt sein. Auch erhielten sie keinen Religionsunterricht, damit sie, so der Wunsch des Vaters, später ihre Religion selbst wählen konnten – so sie es denn wollten. Tatsächlich war Sri Aurobindo kein religiöser Mensch, und er betonte stets, dass Religion und Spiritualität nicht dasselbe seien.

Sri Aurobindo war klug, wissbegierig und von unglaublich schneller Auffassungsgabe. Er lernte Griechisch und Latein, sprach fließend Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch. Die französischen Symbolisten Mallarmé und Rimbaud las er ebenso im Original wie Goethe und den italienischen Dichter Dante. Man sagt, dass Humor zum Kern seines Wesens gehörte, aber kein spöttischer Humor, sondern ein freudvoller und mitfühlender.

Mit 18 erhielt Sri Aurobindo ein Stipendium in Cambridge. Gleich im ersten Jahr gewann er dort alle Preise in griechischer und lateinischer Dichtung. Doch sein Interesse begann sich in dieser Zeit zu verschieben. Er beschäftigte sich mit Jeanne d’Arc und der amerikanischen Revolution – und der Gedanke an die Befreiung seiner Heimat, die Unabhängigkeit Indiens ließ ihn nicht mehr los. Obwohl er zu dieser Zeit kaum wusste, was ein Inder, geschweige denn, was ein Hindu war, sollte er sich fast 20 Jahre politisch in seinem Heimatland betätigen und zu einem der großen Vorkämpfer der indischen Unabhängigkeit werden – 15 Jahre, bevor Gandhi die politische Bühne Indiens betrat.

Heimkehr

Sri Aurobindo ging es nie um Theorien. Er war ein Macher, ein Handler. An der Universität wurde er zum Sekretär der Indian Majlis, der Verbindung indischer Studenten in Cambridge. Er hielt revolutionäre Reden, trat einer Geheimgesellschaft mit dem Namen „Dolch und Lotos“ bei – und landete schnell auf der Schwarzen Liste der englischen Regierung. Den Bachelor of Arts in den klassischen Fächern machte er zwar noch, verzichtete dann aber auf den Universitätsgrad – sein Interesse hatte sich bereits komplett verlagert.

Ohne Frage ist diese absolute Freiheit und Unabhängigkeit etwas, was wir von Sri Aurobindo lernen können. Was er für richtig hielt, tat er, ohne zu fragen, ob es ihm nutzen oder schaden könne. Doch genauso wie er sich der Dinge annahm, ließ er sie auch hinter sich, wenn er sich neuen Dingen zuwendete. Vollständig.

„Wenn ihr einen Abschnitt eurer Reise hinter euch gebracht habt, lasst ihn fallen, auf dass er verschwinde“, sagte er einmal. „Schreitet voran! Alles, was wir festhalten, belastet und behindert uns.“ Oder später: „Die Vollendung des Integralen Yoga wird dann erreicht sein, wenn jeder seinem eigenen Weg des Yoga und der Entfaltung seiner eigenen Natur folgen kann, in ihrem Aufwärtsstreben zu dem, was die Natur überschreiet. Denn die Freiheit ist das höchste Gesetz und die letzte Erfüllung.“

Und so schiffte sich Sri Aurobindo mit gerade einmal 20 Jahren nach Indien ein. Ohne Verbindungen (sein Vater war bereits gestorben und seine Mutter so schwer erkrankt, dass sie ihn nicht mehr erkannte), ohne Stellung und Titel, aber mit dem dringenden Wunsch zu handeln und etwas zu vollbringen.

Revolutionär und Yogi

Als Sri Aurobindo in Bombay von Bord des Schiffes ging, das ihn nach Indien gebracht hatte, hatte er ein erstes spirituelles Erlebnis: eine weite Stille nahm von ihm Besitz.

Weil er völlig mittellos war, nahm er zunächst beim Maharaja von Barode eine Stelle als Lehrer an und unterrichtete Französisch, später auch Englisch am staatlichen College, wo er schnell zum stellvertretenden Rektor aufrückte. Gleichzeitig schrieb er jedoch Artikel, in denen er seine Landsleute aufrief, ihr Joch abzuschütteln – und die schnell für großes Aufsehen sorgten. Sein Ziel war kein Geringeres, als alle Kräfte des Landes zu einer revolutionären Tätigkeit zusammenzuschmieden.

Genauso schnell, wie Sri Aurobindo sich die gesamte abendländische Kultur erschlossen hatte, bemächtigte er sich nun des Indischen und Hinduistischen. Er lernte seine Muttersprache Bengali, bald darauf Sanskrit, damit er die großen Schriften Indiens, die Upanischaden, die Baghavad Gita und das Ramayana im Original lesen konnte. Doch auch davon hatte er bald genug, erkannte er doch, dass ihn ein bloßes Anhäufen von Wissen nicht weiter bringt.

Ein Freund riet ihm, mit Yoga zu beginnen. Doch Sri Aurobindo winkte zunächst ab mit den Worten: „Ein Yoga, der von mir verlangt, dass ich mich von der Welt abwende, ist nichts für mich.“ An Indien kritisierte er „die Trägheit, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Fortschritt, die Resignation, die sich allzu oft die Maske der Weisheit anlegen und in der Vernachlässigung der Welt münden.“

Das war etwas, das er, der im Westen Aufgewachsene, nicht verstand, und er fragte sich, wie es zu diesem riesigen Widerspruch in der großen Offenbarung Indiens gekommen war? Wie war es möglich, dass aus „alles ist Brahman“ in den frühen Upanishaden, ein „alles, ausgenommen der Welt ist Brahman“ der späteren Upanishaden werden konnte? In der Mundaka-Upanishad hatte es noch geheißen: Diese Erde, dieses Leben, diese Menschen, dies alles ist Brahman, dieses ganze großartige Weltall. Doch in der Niralamba Upanishad hieß es dann: „Das Brahman ist wahr, die Welt ist eine Lüge.“ Und der große Mystiker und Dichter Shankara rief zu Beginn des 8. Jahrhunderts aus: „Wende dich ab von dieser Welt der Illusion.“

Und es war ja nicht nur in Indien so, alle großen Weltreligionen sagen dasselbe, schrieb Satprem später in einem Kommentar dazu: „Ob man vom Seelenheil spricht oder von der Befreiung (mukti), ob man vom Paradiese spricht oder vom Ende des Kreislaufs der Widergeburten, letztendlich geht es in allen Fällen darum, dass man sich der Sache entzieht.“

Für Sri Aurobindo gab es kein „ausgenommen“ und auch kein „entziehen“. Für ihn war die Welt keine Lüge, sie war Brahman, wie in den frühen Upanishaden, und er wollte das Himmelreich, das göttliche Paradies auf die Erde holen. Ein anderes Yoga-Verständnis machte für Sri Aurobindo keinen Sinn.

Als er miterlebte, wie einer der halbnackten indischen Wandermönche seinen Bruder Barin, der an einem bösen Fieber litt, heilte, wurde ihm klar, dass Yoga auch anderen Zwecken als der Weltflucht dienen könnte.

Spiritueller Realismus

Während Sri Aurobindo also am staatlichen College und am Hofe des Maharajas von Baroda unterrichtete, sich gleichzeitig zunehmend als Freiheitskämpfer für Indien engagierte, gewöhnlich bis nachts um ein Uhr Gedichte schrieb, tauchte er gleichzeitig mehr und mehr in den Yoga ein. Eine Trennung von diesseitigem und jenseitigem Leben gab es für ihn nicht. „Seit meiner Rückkehr nach Indien sind mein Leben und mein Yoga immer zugleich von dieser Welt und nicht von dieser Welt gewesen, ohne dass die eine Seite die andere Seite ausgeschlossen hätte“, schrieb er in einem Brief an einen Schüler.

Mehr und mehr wandte er sich dem, wie er es nannte, „spirituellen Realismus“ zu. Mit Zeitungsartikeln und politischen Reden versuchte er, den Gedanken der Unabhängigkeit Indiens wachzurufen und die „revolutionären Geister zu schüren“. Von sich selbst sagte er: „Ich bin weder ein ohnmächtiger Moralprediger noch ein schwächlicher Pazifist.“ Damit das Gesetz des Streits und der Zerstörung aus der Welt verschwinde, genüge es nicht, die eigenen Hände rein und die eigene Seele unbefleckt zu lassen. Eine bloße Unbeweglichkeit und Trägheit, die nicht willens sei, dem Bösen Widerstand zu leisten, fördere sogar die Zerstörung.

Und so gründete er eine nationalistische Partei und mit dem Nationalisten Bepin Pal zusammen eine eigene Tageszeitung, die „Bande Mataram“ – „Heil dir, Mutter Indien“. Er stellte ein Aktionsprogramm für das ganze Land auf, in dem er zum Boykott der britischen Erzeugnisse, Boykott der britischen Gerichte und Boykott der britischen Schulen und Universitäten aufrief. Er entfaltete als Aufwiegler solch eine rege Tätigkeit, dass nach einem Jahr ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde. Doch weil alle seine Texte und Reden rechtlich nicht angreifbar waren – er berief sich schlicht auf das Recht eines jeden Landes auf Unabhängigkeit –, wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Durch diese missglückte Verhaftung wurde Sri Aurobindo berühmt. Doch trotz aller Entschiedenheit und Unerschrockenheit, die er im Freiheitskampf Indiens an den Tag legte, war Sri Aurobindo nie ein Fanatiker. Er blieb für seine Zeitgenossen immer „der ruhige junge Mann, der mit einem einzigen Wort eine stürmische Versammlung zum Schweigen bringen konnte“, wie es Satprem formulierte. Und er entwickelte konsequent seinen integralen Yoga weiter.

Das Schweigen des Mentals

Patanjali und viele andere haben beschrieben, wie es gelingen kann, die Bewegungen des Geistes zur Ruhe zu bringen und in den Zustand des Yoga einzutauchen. Sri Aurobindo sagte dazu: „das Mental zum Schweigen bringen“. Dies sei essenziell, daran ließ auch Aurobindo keinen Zweifel, „weil wir zuerst das alte Land verlassen müssen, wenn wir ein neues entdecken wollen.“ Zwar sei die Fähigkeit zu denken eine beachtliche Gabe, die Fähigkeit nicht zu denken sei aber noch viel beachtlicher.

In Meditationsübungen, auch wenn sie hilfreich und notwendig seien, sah Sri Aurobindo dabei jedoch nicht die wahre Lösung des Problems. „Denn wenn wir zurückkommen aus der Stille in die Welt, und alles ist wie vorher, was ist dann gewonnen? Was ist gewonnen, wenn unsere Taten nicht dem inneren Licht entsprechen?“ Der einzige Weg war seiner Ansicht nach deshalb, das Schweigen dort zu üben, wo es am schwierigsten ist: „auf der Straße, in der U-Bahn, bei der Arbeit und überall.“ In jedem Augenblick müsse man die verstreuten Fäden seines Bewusstseins sammeln und an sich selbst arbeiten. Dann sind wir ausgerichtet, dann steuern wir auf ein Ziel zu, anstatt ins Blaue hinein zu meditieren.

Die Geburt der Seele

Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu höheren Bewusstseinsstufen ist für Sri Aurobindo die, wie er es nennt, „seelische Geburt“. In dem Moment, wo wir beginnen, uns von unseren mentalen und vitalen Regungen frei zu machen, wird etwas  in uns entzündet, „etwas wie ein Feuer, agni; das ist das wahre Ich in uns“. Es fühle sich an wie „Wissensdurst“ oder eine „Liebessehnsucht“, die aber nicht unserem kleinen Ego gilt. „Wie eine lebendige Tiefe, die man im Innern trägt, die wärmt und brennt, die drängt und immer noch mehr drängt, bis sie endlich zur Wirklichkeit wird, zur einzigen Wirklichkeit in einer Welt, in der man sich fragen kann, ob die Menschen leben oder nur so tun als ob. Es ist unser Selbst aus Feuer, das einzig wahre Selbst dieser Welt.

Die Entdeckung der Seele sei dabei kein Endpunkt für den Sucher, sondern nur der winzige Anfang einer weiteren Reise, die sich in Bewusstheit statt in Unwissenheit vollzieht. Wichtig sei dabei ein unerschütterlicher Glaube daran, dass wir irgendwann an eine Türe gelangen, die sich öffnen wird. Ein Glaube, der nicht unsinnig sei, sondern vielmehr ein Voraus-Wissen, etwas in uns, das weiß, bevor wir wissen, das sieht, bevor wir sehen.

„Der Glaube ist eine Intuition, die nicht darauf wartet, von der Erfahrung bestätigt zu werden, sondern zur Erfahrung führt.“ Oder anders ausgedrückt: Nur wenn wir glauben, dass wir ein höheres Bewusstsein entwickeln können und daran arbeiten, werden wir es auch tun. „Das Bewusstsein ist das Mittel, das Bewusstsein ist der Schlüssel, das Bewusstsein ist das Ziel.“

Integraler Yoga

Aufsteigende Kraft (Kundalini) vs. absteigende Kraft

Der Yogi, schreibt Sri Aurobindo, erkenne irgendwann, dass die Gedanken nicht im Kopf entstehen, sondern von außen kommen, „aus dem universalen Mental oder der universalen Natur, manchmal geformt und deutlich, manchmal ungeformt, um irgendwo in uns Gestalt zu erhalten.“ Die Hauptaufgabe unseres Mentals bestehe darin, auf diese Gedankenwellen (ebenso wie auf feinstoffliche Energiewellen) mit Annahme oder Ablehnung zu antworten, „dem Denkstoff aus der umgebenden Natur-Kraft eine persönlich-mentale Form zu geben“. Daraus entstehe eine vollkommen neue Art des Wissens und des Handelns.

Dies ist laut Aurobindo der zentrale Unterschied zwischen seinem Integralen Yoga und der klassischen Yogalehre. Im integralen Yoga geht es nicht darum, die Kundalini zu erwecken und ein Chakra, ein Bewusstseinszentrum nach dem anderen von unten nach oben zu öffnen, um am Ende die Erleuchtung zu erlangen, sondern den umgekehrten Weg zu gehen – von oben nach unten, zunächst die höchste und dann eine nach der anderen alle Bewusstseinsebenen zu durchdringen und zu transformieren, bis zur niedrigsten, der physischen Ebene.

 

„Diese herabsteigende Kraft ist eine transformierende Kraft, die ganz von selber den Yoga für uns vollzieht“, schreibt Sri Aurobindo. Man brauche „nichts anderes zu tun, als den Durchgang nicht zu versperren. Den Strom in den Kopf nicht zu blockieren, sondern ihn in alle Schichten unseres Wesens herunterkommen zu lassen.“ Alles ist in einem ständigen Zustand des Fließens, und alles erreicht uns aus einem Mental, das umfassender ist als das unsrige und das gesamte Universum durchdringt, aus einem Vital, das umfassender ist als das unsrige und das gesamte Universum durchdringt. Oder aus noch niedrigeren Schichten, die unterbewusst, oder aus noch höheren Schichten, die überbewusst sind.

Aurobindo spricht von einer „Stufenleiter von Bewusstseinsebenen, die sich ohne Unterbrechung vom reinen Geist bis hinab zur Materie aneinanderreihen und in unmittelbarer Beziehung zu unseren Zentren stehen.“ Das Mental ist für ihn nur eines dieser Zentren, auch wenn es sich anmaßen wolle, an erster Stelle zu stehen.

Im spirituellen oder yogischen Stadium sei das Bewusstsein von seinen mentalen, vitalen und physischen Strudeln vollständig befreit und zum Meister seiner selbst geworden, schreibt dazu Satprem. „Ein Meister, der fähig ist, dies gesamte Stufenleiter der Bewusstseinsschwingungen zu durchlaufen“ – und mit ihnen in Verbindung zu treten. In diesem yogischen Stadium erkenne man auch, dass Bewusstsein eine Kraft ist; Bewusstseinskraft (chit agni), die alles verbindet, alles belebt, die Grundlegende Substanz des Kosmos. Und noch mehr als das, nämlich reine Freude, Bewusstseinsfreude (chit ananda). So wie es schon in der Taittiriya Upanishad heißt: „Aus der Freude sind alle Dinge geboren, durch Freude bestehen und wachsen sie, zur Freude kehren sie zurück.“

Die Geschichte unserer irdischen Evolution ist laut Sri Aurobindo also letztlich die Geschichte der Kraft, die sich langsam in Bewusstsein verwandelt; oder genauer: die Geschichte des Bewusstseins, das in seine eigene Kraft versunken war und sich langsam an sich zurückerinnert.“ Oder wie es der integrale Philosoph Ken Wilber in Anlehnung an Sri Aurobindo viel später formuliert hat: das Göttliche wird sich seiner selbst durch uns bewusst.

Offenbarungen

Mitten im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens, in einer für Sri Aurobindo äußerst turbulenten und aufrührerischen Zeit, suchte er am 30. Dezember 1907 erstmals den Yogi Vishnu Bhaskar Lele auf und sagte zu ihm: „Ich möchte den Yoga vollziehen. Aber um arbeiten und handeln zu können, nicht um auf die Welt zu verzichten oder ins Nirvana einzugehen.“ Der Yogi entgegnete: „Ihnen sollte das ein Leichtes sein, Sie sind ja Dichter.“

Doch zunächst einmal kam alles ganz anders, und Sri Aurobindos bereits paradoxes Leben nahm eine nochmalige und neue Wendung. In den drei Tagen, in denen er mit Lele zusammen war, machte Aurobindo eine Reihe äußerst machtvoller Erfahrungen, und er erfuhr eine Reihe tiefgreifender Bewusstseinsänderungen. Alle seine Bemühungen um die mentale, vitale und physische Transformation sowie sein Glaube an ein vollendetes irdisches Leben wurden mit einem Schlage in einer enormen Illusion ausgelöscht. Nichts blieb übrig außer leeren Formen.

„Ich sah mich plötzlich in einen Zustand oberhalb des Denkens und ohne Gedanken versetzt“, beschrieb er diese Samadhi-Erfahrung, „der von keiner Regung des Mentals oder Vitals getrübt war; es gab kein Ich, keine wirkliche Welt … Hier war kein Eines und nicht einmal ein Vieles, sondern einfach ein DAS … unbeschreiblich, undenkbar, absolut und dennoch eine einzige und höchste Wirklichkeit. Es überflutete den Anschein einer physischen Welt und ließ keinen Platz, keinen Raum für irgendeine Wirklichkeit außer sich selbst. Was diese Erfahrung brachte, war ein unaussprechlicher Frieden, ein überwältigendes Schweigen, eine Unendlichkeit an Loslösung und Freiheit.“ Doch sein integraler Yoga brach in sich zusammen. Wie sollte er zurückkehren und seine Arbeit in der Welt wieder aufnehmen, die er gerade eben als Illusion erfahren hatte?

Doch es war noch lange nicht das Ende, sondern ging in atemberaubendem Tempo weiter. Und so wurde diese Erfahrung, von der man sagt, sie sei die letzte und endgültige, für Sri Aurobindo wiederum nur der Ausgangspunkt zu neuen, noch höheren Erfahrungen, die die Wahrheit der Welt und die Wahrheit des Jenseits zu einer neuen, alles umfassenden Ganzheit zusammenfügten. „Jene Haltung, die die Welt als Illusion sieht, wich einer anderen, einer unermesslichen göttlichen Wirklichkeit, darüber eine erhabenste göttliche Wirklichkeit … und im Herzen aller Dinge, von denen man zunächst dachte, sie seien nur Formen oder Schatten, eine äußerst kraftgeladene göttliche Wirklichkeit.“

Sri Aurobindo hatte eine neue, noch höhere Bewusstseinsebene erklommen, und er war vermutlich der erste Yogi, dem der Unterschied bewusst wurde zwischen einem Bewusstseinszustand (Samadhi, Nirvana), der vorübergehend ist, und den Bewusstseinsstufen oder -ebenen, die stabil sind – zumindest so lange, bis man die nächste, die nächst höhere Stufe erklimmt. Er erkannte, dass die Erfahrung von Samadhi nicht die höchste Sprosse der Leiter ist, sondern eine Erfahrung, die man auf jeder Bewusstseinsstufe machen kann. Und dass sich diese Erfahrung grundlegend ändert, wenn man die höchsten Bewusstseinsstufen, oberhalb des Mentals, erreicht hat. Dies sei „der Beginn der höheren Evolution“, in der es nicht darum gehe, das Mental aufzulösen, sondern es bis zum Äußersten zu entwickeln, so sein Schüler Satprem: „bis sein Kleinmut und sein oberflächliches Getöse erschöpft sind und es in seine höheren Regionen einmünden kann, auf einer spirituellen und supramentalen Stufe“.

Vier Monate nach dem Treffen mit Yogi Lele, am Morgen des 4. Mai 1908, wurde Sri Aurobindo verhaftet. In Kalkutta hatte es einen Mordanschlag auf einen britischen Magistraten gegeben. Obwohl er mit dem Attentat nichts zu tun hatte und am Ende wieder frei gesprochen wurde, verbrachte er in Erwartung des Urteils ein Jahr im Gefängnis von Alipore. Er haderte, gab es doch so viel zu tun im Freiheitskampf für Indien. Doch er erinnerte sich, dass er gut einen Monat vor seiner Verhaftung einen inneren Ruf vernommen hatte, er solle innehalten und in sich gehen. „Doch ich war schwach und hörte nicht darauf. Meine Arbeit war mir sehr kostbar, und ich dachte, sie könne Schaden nehmen“, schrieb er später.

Doch jetzt hatte er Zeit, innezuhalten und nach innen zu schauen. Auf dem Gefängnishof von Alipore hatte er eine weitere Offenbarung, kam er erstmals in Kontakt mit einer weiteren, noch höheren Bewusstseinsebene. Und er verstand, dass die Evolution noch lange nicht zu Ende ist. Dass es immer neue, noch höhere Stufen des Bewusstseins geben wird.

Sri Aurobindo: „Dieses eine Sein und Bewusstsein ist hier in Materie involviert. Evolution ist der Prozess seiner Selbstbefreiung. Bewusstsein taucht auf in dem, was ohne Bewusstsein zu sein scheint, und, einmal aufgetaucht, treibt es sich selbst an, immer höher hinaufzuwachsen und sich zugleich zu weiten und zu immer größerer Vollkommenheit hin zu entwickeln. Das Leben ist der erste Schritt dieser Freisetzung von Bewusstsein; der Geist ist der zweite. Doch die Evolution bleibt beim Geist nicht stehen. Sie wartet auf ihr Einmünden in etwas noch Größeres, ein Bewusstsein, das spirituell und supramental ist. Nichts gibt uns daher Anlass, die Möglichkeiten der Evolution als begrenzt anzusehen und den gegenwärtigen Status unseres Daseins für endgültig zu halten.“

Nach seiner Freilassung folgte Sri Aurobindo „der Stimme Gottes in seinem Inneren“, wie er sagte. 1910 gründete er einen Ashram in Pondicherry. Von 1914 bis 1920 publizierte er auf Initiative des französischen Schriftstellers Paul Richard die philosophische Zeitschrift Arya. In diesen sechs Jahren entstehen beinahe alle seine geschriebenen Werke – fast 5.000 Seiten. Im Jahre 1926 zog sich Sri Aurobindo schließlich komplett zurück, um sich nur noch der Verwirklichung des kosmischen Bewusstseins und der Erforschung des Überbewussten zu widmen, der Bewusstseinsebenen oberhalb des Mentals. Die Leitung des Ashrams übernahm seine spirituelle Gefährtin „Die Mutter“.

Die höheren Bewusstseinsstufen nach Sri Aurobindo

Das höhere Mentale:

Unser erster entscheidender Schritt über unsere normale Denkweise hinaus ist ein Aufsteigen zu einem höheren Denkbewusstsein, zu einem Denken, das nicht länger aus Licht und Dunkel gemischt ist, sondern aus der weiten Klarheit des Spirits stammt. Seine Ursubstanz ist ein Gefühl der Einung des Wesens mit einer mächtigen, belebenden Kraft. Auf dieser höheren Denkebene ist es nicht mehr nötig, zu suchen und kritisch zu überlegen. Hier gibt es kein logisches Vorgehen, Schritt für Schritt bis zu einem Schluss, keine Konstruktion oder absichtliche Verkettung von Ideen miteinander, um so zu einem regelrechten Schluss, zu einem Ergebnis der Erkenntnis zu gelangen. Dieses höhere Bewusstsein stellt ein Wissen dar, das sich auf Grund eines totalen Gewahrseins selbst formuliert. Das in sich selbst ruht und einen Teil seiner Ganzheit offenbart, eine Harmonie von Bedeutungen, in Gedankenformen gebracht.

Das erleuchtete Mentale:

Ein Bewusstsein, das auf Schau beruht, das Bewusstsein des Sehers; es stellt eine mächtigere Quelle des Wissens dar als das des Denkers. Die Wahrnehmungskraft aus der inneren Schau ist größer und direkter als die Wahrnehmungskraft aus dem Denken. Sie ist ein spiritueller Sinn, der etwas von der Substanz der Wahrheit erfasst und nicht nur ihr Abbild.
Diese größere Kraft gehört dem Erleuchteten Mentalen an, einem Mentalen nicht mehr nur des höheren Denkens, sondern des spirituellen Lichtes. Dann tritt die Klarheit der spirituellen Intelligenz mit ihrem ruhigen Tageslicht zurück oder unterwirft sich einem starken Glanz, einer Herrlichkeit und Erleuchtung des Spirits: Ein Spiel von Erkenntnisblitzen der spirituellen Wahrheit und Macht bricht von oben in unser Bewusstsein ein und fügt der ruhigen und weiten Erleuchtung und dem gewaltigen Herabströmen des Friedens, die das höhere Mentale charakterisieren, eine feurige Glut der Verwirklichung und eine leidenschaftliche Ekstase des Wissens hinzu.

Das intuitive Mentale:

Diese beiden Entwicklungsstufen können nur dann zu ihrer gemeinsamen Vollendung gelangen, wenn sie sich auf eine dritte Stufe beziehen, wo das Wesen der Intuition wohnt. Diese innige Erkenntnis ist mehr als Schau, mehr als Begreifen; Intuition ist immer wie ein Schwert, ein Strahl, ist ein Ausbruch des höheren Lichtes. Sie dringt in uns ein wie eine Klinge, eine Schneide oder die Spitze eines fernen, supramentalen Lichtstrahles. Die Intuition besitzt eine vierfache Fähigkeit: die Kraft der offenbarenden Wahrheitsschau, die Kraft der Eingebung oder des Hörens der Wahrheit, die Kraft, die Wahrheit zu fühlen oder ihre Bedeutung unmittelbar zu erfassen, und schließlich die Kraft der wahren und unwillkürlichen Unterscheidung der wohlgeordneten und genauen Beziehung von Wahrheit zu Wahrheit. 

Das Übermentale:

Die nächste Stufe des Aufstiegs bringt uns zum Übermentalen; denn die Wandlung durch Intuition kann nur die Einleitung zu dieser höheren spirituellen Ouvertüre sein. Wenn das Übermentale herabkommt, wird sich der Herrschaftstrieb des Ich-Sinnes, der sich immer in den Mittelpunkt stellt, gänzlich unterordnen, in der Weite des Seins verlieren und schließlich ganz abgelegt werden. Ein weites kosmisches Schauen, das Gefühl eines grenzenlosen All-Selbstes und ein All-Streben sind an seine Stelle getreten. Viele Regungen, die vorher noch egozentrisch waren, mögen zwar noch fortdauern, erscheinen aber nun als Strömungen und Wellenlinien in der kosmischen Weite. In dieser grenzenlosen Weite kann nicht nur das Einzel-Ich, sondern jedes Gefühl von Individualität oder instrumentaler, untergeordneter Persönlichkeit gänzlich verschwinden. Das kosmische Sein, das kosmische Bewusstsein, die kosmische Wonne, das Spiel der kosmischen Kräfte ist allein übriggeblieben, und wenn nun die Wonne oder der Brennpunkt der Kraft dort gefühlt wird, wo persönliches Denken, Vitales oder Einzelkörper gewesen sind, dann wird es nicht mehr als etwas Persönliches, sondern als ein Feld der Offenbarung empfunden.

Die „Herabkunft des Supramentalen“, von der er sich einen Bewusstseinswechsel erhoffte, „der die Macht haben wird, eine ebenso tiefgreifende und dauerhafte Umwandlung zu bewirken, wie sie der Geist hervorrief, als er zum ersten Mal in der Materie auftrat“, hat Sri Aurobindo nicht mehr erlebt. Er hat von diesem supramentalen Bewusstsein lediglich eine grobe Skizze angefertigt, denn dieses Bewusstsein ist gerade erst im Entstehen. „Die Geschichte vollzieht sich erst, sie ist ganz neu und voller Schwierigkeiten“, schreibt dazu Satprem. „Wir wissen weder, wohin sie führt, noch, ob sie gelingt. Im Grunde hängt es ein wenig von uns allen ab.“

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    Martina Hierholzer

    at 13.09.2023

    Sehr interessanter Artikel. Ich habe schon viele Yoga-Bücher gelesen und verschiedene Yoga-Stile praktiziert. Bin aber erst aktuell über das AYI und Sri Aurobindo 'gestolpert'. Ich möchte mich [...] Sehr interessanter Artikel. Ich habe schon viele Yoga-Bücher gelesen und verschiedene Yoga-Stile praktiziert. Bin aber erst aktuell über das AYI und Sri Aurobindo 'gestolpert'. Ich möchte mich zukünftig intensiv damit beschäftigen! Namaste

    • Vielen Dank für dein positives Feedback, liebe Martina. Ein schöner Einstieg in die Lehre Sri Aurobindo ist das Buch seines Schülers Satprem: "Sri Aurobindo oder Das Abenteuer des Bewusstseins." Es [...] Vielen Dank für dein positives Feedback, liebe Martina. Ein schöner Einstieg in die Lehre Sri Aurobindo ist das Buch seines Schülers Satprem: "Sri Aurobindo oder Das Abenteuer des Bewusstseins." Es ist sicherlich zugänglicher als Sri Aurobindo im Original und hat auch mir den Einstieg sehr erleichtert. Eine weitere Option wäre das "Handbuch des integralen Yoga" mit kurzen Texten zu allen möglichen Themen von Sri Aurobindo und seiner spirituellen Gefährtin Die Mutter. Ich hoffe, das hilft dir. Namaste und liebe Grüße, Ralf

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    Reinhard Neuwirth

    at 17.08.2023

    Ein toller Artikel... so schön dass auch Sri Aurobindo Platz im AYI Haus findet... AUM Ein toller Artikel... so schön dass auch Sri Aurobindo Platz im AYI Haus findet... AUM

    • Vielen Dank, lieber Reinhard! Es freut mich sehr, dass dir mein Text über diesen großartigen Denker gefällt! Namaste Vielen Dank, lieber Reinhard! Es freut mich sehr, dass dir mein Text über diesen großartigen Denker gefällt! Namaste